Angehörigen-Entlastungsgesetz zum 01.01.2020
Die Rechtslage, die sich aus dem Angehörigen-Entlastungsgesetz im Hinblick auf die Unterhaltsheranziehung
(aber nur für den Elternunterhalt) ergibt, wurde in der Seminarbeschreibung Angehörigenentlastungsgesetz beschrieben.
Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Kindern und – bei volljährigen Kindern – gegen ihr Eltern gehen nach § 94 Abs. 1a SGB XII nicht über und sind nicht zu berücksichtigen, es sei denn, deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 des Vierten Buches beträgt jeweils mehr als 100 000 Euro (Jahreseinkommensgrenze).
Es wird vermutet, dass das Einkommen der unterhaltsverpflichteten Personen nach Satz 1 die Jahreseinkommensgrenze nicht überschreitet.
Zur Widerlegung der Vermutung nach Satz 3 kann der jeweils für die Ausführung des Gesetzes zuständige Träger von den Leistungsberechtigten Angaben verlangen, die Rückschlüsse auf die Einkommensverhältnisse der Unterhaltspflichtigen nach Satz 1 zulassen.
Liegen im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze vor, so ist § 117 anzuwenden.
unterhaltsrechtlichen Auswirkungen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes
Die Regelung „AngehEntlG“ betrifft in unterhaltsrechtlicher Hinsicht nur den Eltern- und Volljährigenunterhalt.
Da das Gesetz von einer Unterschreitung der Einkommensgrenze ausgeht, soll nicht mehr jeder zum Unterhalt Verpflichteter überprüft werden. Neben einer (finanziellen) Entlastung für Pflichtige, die auch schon bei einem Bruttoeinkommen unter 100.000 € leistungsfähig sein können, lag dem Gesetzgeber an einer Gleichstellung der Grundsicherung mit den anderen SGB XII-Hilfen.
Dass das AngehEntlG u. a. durch den Verzicht auf die Unterhaltsheranziehung Mehrkosten zur Folge hat (im Referentenentwurf ist von ca. 300 Millionen € die Rede), war allen Beteiligten klar. Mit der Neuregelung entfalle aber auch Erfüllungsaufwand für Betroffene, Angaben zu Einkommen und Vermögen machen zu müssen. Ferner werde die öffentliche Verwaltung deutlich entlastet (= 18 Mill. €), weil sich die Zahl der zu überprüfenden Angehörigen „dauerhaft extrem reduzieren werde“.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sprach – ähnlich wie der Deutsche Städtetag – davon, dass ein Großteil (Rückmeldungen aus der Praxis gehen von rund 90 Prozent der Fälle aus) der Unterhaltsprüfungen entfallen werden.
Der Deutsche Anwaltsverein wies in seiner Stellungnahme darauf hin, dass aufgrund der großzügigen BGH-Rechtsprechung zum Elternunterhalt ohnehin kaum Refinanzierungserfolge zu erzielen seien.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund widersprach der Erwartung, dass mittelfristig mit einer kommunalen Ersparnis hinsichtlich der Personalkosten zu rechnen sei. Er gehe vielmehr davon aus, dass es zu einer beachtlichen Steigerung der Fallzahlen bei Wegfall des Hemmnisses „Unterhaltsprüfung“ kommen werde.
Vermutung, dass ... Unterhaltsansprüche nicht übergehen
§ 94 Absatz 1a Satz 3 SGB XII entspricht der bisherigen Norm des § 43 Absatz 5 Satz 2 und übernimmt die Vermutungsregel. Insoweit erübrigten sich in der Gesetzesbegründung Ausführungen zur Auslegung der Vorschrift – lediglich aus Klarstellungsgesichtspunkten erfolge der Verweis auf § 117, heißt es dort.
Die in § 94 Abs. 1a übernommene gesetzliche Vermutung ist – im Gegensatz zur gesetzlichen Fiktion – widerleglich (vgl. jurisPK-SGB XII/ Blüggel, zu § 43 SGB XII a. F., Rdnr. 45).
Sie gilt nur so lange, bis der SH-Träger den Beweis des Gegenteils führt (§ 202 i. V. m. § 292 ZPO). Die Behörde trägt damit die (materielle) Beweislast, anderenfalls bleibt es bei der gesetzlichen Vermutung.
§ 94 Abs. 1a ermächtigt den SH-Träger zur Widerlegung der Vermutung
a) vom Leistungsberechtigten Angaben zu verlangen,
die Rückschlüsse auf die Einkommensverhältnisse der Unterhaltspflichtigen zulassen und
b) wenn hinreichende Anhaltspunkte für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze vorliegen
vom Pflichtigen Auskunft über sein steuerpflichtiges Bruttoeinkommen i. S. d. § 16 SGB IV zu verlangen.
Angaben des Leistungsberechtigten, die Rückschlüsse … zulassen
Das Gesetz stellt zur Widerlegung der Vermutung maßgeblich auf die Angaben des Leistungsberechtigten ab.
Zum Teil gingen die Sachverständigen in ihren schriftlichen Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf darauf ein. Die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) führte zur Auskunftspflicht des Leistungsberechtigten aus, dass diese Angaben unter die Mitwirkungspflichten der §§ 60 ff. SGB I fallen. Daher kann bei einer Verweigerung der Angaben eine Versagung der Leistungen erfolgen (vgl. auch jurisPK-SGB XII/ Blüggel, zu § 43 SGB XII a. F., Rdnr. 35, 67).
Bei den Leistungsberechtigten handelt es sich aber sehr oft um ältere, gebrechliche und teils demente Menschen. Sie stehen teils unter Betreuung und „können“ häufig keine Angaben zu ihren Angehörigen machen, die Rückschlüsse auf deren Einkommensverhältnisse zulassen (vgl. dazu Bress-Brandmaier und Gühlstorf, ZfF 2020, 109). Hinzu kommen Interessenkonflikte, wenn Verwandte als Betreuer auftreten oder bei der Antragstellung unterstützend mitwirken. Der Leistungsberechtigte wird nur selten konkrete Vorstellungen und Kenntnisse zur Einkommenshöhe des Pflichtigen haben. Allein Angaben des Leistungsberechtigten zu Vor- und Nachnamen, Geburtsdatum und ggf. erlernter bzw. ausgeübter Beruf des Pflichtigen (vgl. jurisPK-SGB XII/ Blüggel, zu § 43 SGB XII a. F., Rdnr. 41) werden dem SH-Träger nicht abschließend weiterhelfen.
Die Angaben des Leistungsempfängers allein reichen in der Praxis regelmäßig nicht aus, „hinreichende Anhaltspunkte“ für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze beim Pflichtigen zu gewinnen. Damit die gesetzliche Vorschrift überhaupt umsetzbar ist, muss sich der Sozialhilfeträger weitere – auf die Angaben des Leistungsberechtigten basierende – Informationen beschaffen dürfen (SG Karlsruhe, Urteil vom 18.1.2018, S 2 SO 1269/16; kritisch offen gelassen: Bress-Brandmaier und Gühlstorf, ZfF 2020, 109). Die betroffenen Sachverständigen sind in der schriftlichen Anhörung auf diese Frage scheinbar nicht eingegangen.
Verantwortung für Aufklärung = Untersuchungsgrundsatz
Die Verantwortung der Behörde zur Aufklärung grundsätzlich sämtlicher relevanter Tatsachen wird eingeschränkt durch die Mitwirkungsobliegenheiten, hier des Leistungsberechtigten. Nach § 20 Abs. 1 SGB X ermittelt die Behörde den relevanten Sachverhalt ansonsten von Amts wegen und bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen und nach § 21 SGB X die Beweismittel, die sie für erforderlich hält (= sog. Freibeweis).
Die Behörde darf sich im Prinzip sämtlicher erreichbarer Erkenntnis- und Beweisquellen bedienen, sofern nicht ausdrücklich ein Verwertungsverbot (z. B. heimliche Tonbandaufnahmen) besteht (vgl. https://www.juracademy.de/allgemeines-verwaltungsrecht/verfahrensgrundsaetze.html), um mehr über die berufliche Situation und ggf. soziale Stellung des Unterhaltspflichtigen zu erfahren. Die Behörde darf alle ihr vorliegenden Erkenntnisse berücksichtigen und ist nicht auf öffentlich zugängliche Informationen (z.B. Funk, Fernsehen, öffentliche Archive) beschränkt (vgl. SG Karlsruhe, Urteil vom 18.1.2018, S 2 SO 1269/16 zu § 43 Abs. 5 SGB XII a. F.).
Schließlich entsteht ein Auskunftsanspruch gegen Unterhaltspflichtige erst dann, wenn ein sog. „Anfangsverdacht“ hinsichtlich guter Einkommensverhältnisse besteht, (vgl. jurisPK-SGB XII/ Blüggel, zu § 43 SGB XII a. F., Rdnr. 45).
Die Behörde benötigt, um ihrer Darlegungslast für einen Auskunftsanspruch genügen zu können, weitere Erkenntnisquellen (dazu ausführlich: Doering-Striening/ Hauß/ Schürmann: Elternunterhalt 2020 – Quo vadis?, FamRZ 2020, S. 141).
Der SH-Träger benötigt konkrete Informationen, ob der Pflichtige zu einer einkommensstarken Berufsgruppe gehört, evtl. auch zur Größe, Branche, Organisation und Finanzstärke des Unternehmens, bei dem der Pflichtige beschäftigt oder unternehmerisch tätig ist.
Derartige Infos sind z. B. aus früheren Auskünften amtsbekannt oder man kann sie über den Internetauftritt eines Unternehmens bzw. des Unterhaltspflichtigen erlangen. Das Internet bietet unter der Rubrik Gehaltsvergleich auch etliche Seiten, die konkrete Anhaltspunkte über das Einkommensniveau bestimmter Berufsgruppen nach jeweiliger Berufssparte, Betriebsgröße, Leitungsfunktion etc. vermitteln.
Dort findet man auch weitere Veröffentlichungen z. B. von Unternehmens- und Berufsverbänden, Kammern etc., die Grundlage eines „Anfangsverdachts“ sein können.
Handlungsbedarf - oder Verzicht auf eigene Recherchen ?
Sich allein auf die unzureichenden Angaben des Leistungsberechtigten zu verlassen oder bei fehlenden Angaben zu Beruf und aktueller Tätigkeit auf jegliche Recherche zu verzichten, würde aus der gesetzlichen Vermutung eine Fiktion machen.
Man würde Unterhaltspflichtige als leistungsunfähig behandeln, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind.
Mit dem AngehEntlG wurde vielerorts bereits eine bisher als notwendig angesehene Spezialisierung der Unterhaltsheranziehung zurückgefahren.
Mitunter wird sogar die Ansicht vertreten, der Leistungssachbearbeiter könne schon beurteilen, ob Unterhaltsansprüche in Betracht kommen oder nicht.
Schaut man sich die ausgefüllten Sozialhilfeanträge zu den Angaben der Pflichtigen und die tatsächliche Arbeitssituation in den Sozialämtern an, sind Zweifel daran berechtigt, zumal die Aufforderung nach § 117 entsprechend begründet werden muss.
Die Praxis zeigte, dass seit Einführung der 100.000€-Grenze in der bisherigen Grundsicherung (§ 43 SGB XII a. F.) nur ganz selten auf vorrangige Unterhaltsansprüche verwiesen wurde.
Die Warnung des Städte- und Gemeindebundes, dass es zu einer beachtlichen Steigerung der Fallzahlen bei Wegfall des Hemmnisses „Unterhaltsprüfung“ kommen werde, gewinnt damit an Aktualität.
Die Sozialämter sind gut beraten, wenn sie mit dieser finanziell bedeutsamen Vorprüfung und fachkundigen Recherche „sensibilisierte“ Mitarbeiter beauftragen, ob hinreichende Anhaltspunkte für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze vorliegen oder nicht.
„Anderenfalls ist zu befürchten, dass die Unterhaltspflicht faktisch abgeschafft ist.“
Auskunftsaufforderung nach § 117 SGB XII
Aufforderung nach § 117 SGB XII
Erst wenn sich aus vorliegenden Infos oder den Angaben des Leistungsempfängers im Einzelfall „hinreichende Anhaltspunkte“ für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze in Höhe von 100.00 € ergeben, ist die unterhaltspflichtige Person nach § 117 SGB XII zur Auskunft über ihre Einkommensverhältnisse (§ 16 SGB IV) verpflichtet.
Inhaltlich ist der Auskunftsanspruch entsprechend § 43 Abs. 3 Satz 4 SGB XII a. F. auf Angaben zum steuerlichen Bruttoeinkommen des Unterhaltspflichtigen beschränkt (Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII [Bearbeitungsstand: 2013] § 43 Rn. 52; vgl. auch Senatsurteil BGHZ 169, 59 = FamRZ 2006, 1511, 1515).
Der CBP forderte genau wie die Bundesvereinigung der Lebenshilfe e. V. aufgrund bisheriger Erfahrungen eine Klarstellung (statt „hinreichende“, die Formulierung „hinreichend begründete bzw. erhebliche Anhaltspunte“), dass nicht jeder Anhaltspunkt oder Zweifel genügen sollte, um das Eingreifen der Vermutungsregelung in Frage zu stellen und Auskünfte zu verlangen. In der Praxis machten Sozialhilfeträger nach deren Erfahrung von der Regelung in § 43 Abs. 5 Satz 4 und 5 SGB XII a. F. relativ ausufernd Gebrauch.
Die Auskunftsaufforderung an den Pflichtigen ist ein Verwaltungsakt. Die Begründung muss alle tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthalten.
Rechtswahrungsanzeige und Auskunftsaufforderung in einem Schreiben verbinden
Ergibt sich nach der erteilten Auskunft, dass die Jahreseinkommensgrenze überschritten wird, gehen nach § 94 Abs. 1 SGB XII sowohl die in Betracht kommenden Unterhaltsansprüche bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen als auch der zivilrechtliche Auskunftsanspruch auf den Sozialhilfeträger über.
Gemäß § 94 Abs. 4 SGB XII kann der Träger der Sozialhilfe den übergegangenen Unterhalt außer unter den Voraussetzungen des bürgerlichen Rechts für die Vergangenheit nur von der Zeit an fordern, zu welcher er dem Unterhaltspflichtigen die Erbringung der Leistung schriftlich mitgeteilt hat.
Aus diesem Grund ist umgehend nach Bewilligung der Hilfe und Vorliegen „hinreichender Anhaltspunkte“ für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze eine sog. Rechtswahrungsanzeige an den Pflichtigen, dessen Einkommen die 100.000-€-Grenze übersteigt, erforderlich.
Zweckmäßigerweise können und sollte Rechtswahrungsanzeige und Auskunftsaufforderung miteinander verbunden werden.
Beigefügt ein – erster – Entwurf mit dem Versuch, die komplizierte Rechtslage zu erklären.
Sofern eines der Kinder, bei denen tatsächlich ein sehr hohes Einkommen über 100.000 € vorliegt, einwendet, auch die Geschwister, deren Einkommen die 100.000-€-Grenze unterschreitet, müsse ebenfalls eine Prüfung der Leistungsfähigkeit erfolgen, ist dieser Einwand nicht unberechtigt. Das Auskunftsersuchen an die nicht in Anspruch genommenen Geschwister könnte so aussehen.